Charles Howard Hinton
Was ist die vierte Dimension?
Heutzutage wird unser Handeln größtenteils von der Theorie bestimmt. Wir haben die einfachen und instinktiven Lebensformen früherer Zivilisationen hinter uns gelassen und orientieren uns an den Erklärungen der Wissenschaft und dem Erfindungsreichtum unserer Intelligenz. Unter diesen Umständen ist es vorstellbar, daß Gefahr nicht nur dann droht, wenn es uns an Wissen und praktischen Fertigkeiten mangelt, sondern gerade dann, wenn wir diese Fähigkeiten in irgend einem Bereich besitzen und in anderen nicht. Würden wir zum Beispiel auf der Grundlage unserer heutigen Kenntnisse von den physikalischen Gesetzen und unserer technischen Fertigkeiten Häuser bauen, ohne den Voraussetzungen der Physiologie Rechnung zu tragen, so würden wir sie wohl - um eines scheinbaren Vorteils willen - vollkommen zugfrei machen, und die bestgebauten Häuser wären voller erstickender Räume. Das Wissen um den Aufbau unseres Körpers und die Voraussetzungen seiner Gesundheit verhindert, daß wir uns durch unsere zunehmende Beherrschung der Natur Schaden zufügen.
Ebenso wird das geistige Gleichgewicht vor den Gefahren geschützt, die sich aus einem Interesse ergeben, das sich auf Argumentationen, die keinen direkten Zusammenhang mit der Wirklichkeit aufweisen, stützen muß. Wir sollten sie dennoch nicht verwerfen. Der Lauf unseres Wissens ist wie das Fließen eines mächtigen Stromes, der auf seinem Weg durch das fruchtbare Tiefland in jedem Tal hinzugewinnt. Einem solchen Strom mag sie ein Fluß aus den Bergen hinzugesellen, der sich nach dem mühevollen Weg über die karge Hochfläche jäh in die Tiefe des größeren Stromes stürzt und im Augenblick des Zusammenfließens das Schauspiel höchster Schönheit bietet, das ein Wasserlauf uns geben kann. Ein solcher Strom ist nicht ungeeignet, um ein mathematisches Denken zu symbolisieren, das schwierige und abstrakte Bereiche durchquert und um seiner kristallenen Klarheit willen den Reichtum opfert, den es aus konkreteren Überlegungen schöpft. Ein solches Vorgehen mag sich als fruchtlos erweisen, es mag sich nie dem großen Lauf der Beobachtung und des Experiments anschließen. Doch findet es den Weg zum großen Strom des Wissens, dann bietet es im Augenblick der Vereinigung das Schauspiel höchster geistiger Schönheit, und es schenkt der Strömung neue Stärke und geheimnisvolle Kraft.
Aus: Charles Howard Hinton: Wissenschaftliche Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Jorge Luis Borges. Stuttgart: Edition Weitbrecht 1983.