Karl Leberecht Immermann: Münchhausen - Eine Geschichte in Arabesken
(Auszug)
[Vorgeschichte: Münchhausen hat sich durch Geschichten und Versprechungen in Schwierigkeiten gebracht und wird von seinen Gläubige(r)n bedrängt. Während der Titelheld schläft, fühlt sich der Schriftsteller Immermann gemüßigt, zu seiner Verteidigung selbst im Roman aufzutreten. Anm. MB]
"Meine Herren!" rief hier der Schriftsteller, froh, wieder zu der Leitung der Angelegenheiten berufen zu werden, mit seiner Stentorstimme. Die Streitenden ließen ab und horchten auf. "Meine Herren, dieser wundersame Mann, der trotz des Lärmens, welchen Sie zu erregen so gefällig sind, seinen Schlummer fortsetzt, scheint eine alte Bekanntschaft von Ihnen zu sein." - "Nun freilich!" versetzten alle.
"Gleichwohl will es mir vorkommen, als walteten noch etliche, und zwar nicht geringe Mißverständnisse in betreff der Persönlichkeit ob", fuhr der Schriftsteller fort.
"Kein Mißverständnis nit, nit das mindeste Mißverständnis, kein Gedank von einem Mißverständnis", eiferte der Ehinger Spitzenmann. "Er ist kein Mißverständnis nit, sondern der Kaptän Gooseberry, wie er sich selbst genannt hat, in Diensten der Königin der Koralleninseln im Stillen Weltmeer, welcher letzthin bei uns auf der Schwäbischen Alb war und uns das große, profitliche Auswanderungsprojekt vorlegte, mir und meinen fünfzig Freunden zu Ehingen."
"Je proteste hautement contre toute atteinte, qu'on voudroit porter à mes droits", lispelte Semilasso. "Der Mann täuscht sich auf eine eklatante Weise. Ich versichere bei meiner Ehre, daß ich das Vergnügen habe, in diesem Schläfer den Doktor Reifenschläger wiederzuerkennen, den großen produktiven Kopf, dessen Bekanntschaft ich vor kaum einem Jahre in Äqypten machte. Er war es, der meine Ideen von Rasseveredelung unter den Menschen durch reine Kreuzungen gesunder Exemplare ohne weitere Formalitäten ausbildete und in vierundzwanzig Stunden den Plan zu einem Vollblutinstitute - vorläufig unter den Kassuben - entwarf. Ich verlor ihn zufällig bei der Pyramide des Cheops aus den Augen, und nachmals hörte ich, er habe sich in Alexandrien eingeschifft, von wo mir denn aber späterhin eine Zeitlang alle Spuren ausgingen."
"Grenzenlose Irrtümer!" riefen die drei Unbefriedigten. - "Laßt mich reden, Brüder", sagte Karl Emanuel, "denn als Philosoph werde ich die Fassung behalten, welche hier not tut. - Schlummernder vergib, daß ich vor solchen Ohren es entweihe! Nein, Packenmann Ihr und Morgenländer Ihr, der Mann da, der mehr als Mensch ist, dieser heilig Ruhende ist weder ein elender Kaptän Gooseberry von den Korallenriffen noch der Vollblutsdoktor Reifenschläger bei der Pyramide des Cheops, sondern kein anderer als --" Er hielt atmend inne.
"Wer?" fragten alle voll der höchsten Spannung.
"... der größte Mann der Zeit, kein Mann eigentlich mehr, sondern der Begriff des Mannes oder männliche Begriff, vielleicht noch zu konkret ist dieses gefaßt, abstrakter gegriffen muß es von ihm heißen, der Begriff ..."
Münchhausen niesete im Schlummer. "Zur Gesundheit!" riefen die Anwesenden.
"... griff, riff, iff, ff", fuhr Karl Emanuel fort. "Oh, könnte ich ihn doch nur abstrakt genug nennen! Der reine Begriff, riff, iff, ff; scheinbar nur gestorben am vierzehnten November 1831 an den Folgen der Cholera, scheinbar begraben auf dem Kirchhofe draußen vor dem Tore, wo in dem Sarge statt seiner das Nichts liegt, welches wieder das Etwas ist, in der Tat fortlebend, Tabak schnupfend, und Whist spielend, also nicht bloß mit dem subjektiven Fühlen, Meinen und Wähnen gefaßt, sondern wirklich und folglich vernünftig - mit einem Worte: Der große, unsterbliche, ewige Hegel, welcher ist der Paraklet, das heißt der Geist, zur Vollendung der Zeiten versprochen, mit dem anhebt das Tausendjährige Reich, in welchem herrschen sollen die Hegelianer."
"Erlauben Sie", sagte der Schriftsteller, "dieses wird mir selbst etwas zu transzendental. Wie verstehen Sie das eigentlich, mein Allerwertester?"
"Rede du in Bildern, Gabriel, zu der Menge", sprach Karl Emanuel. "Die Ausdrücke des Systems klingen unbeschnittenen Ohren dunkel."
Karl Gabriel, der Dichter, sagte: "Der große Mann fühlte nämlich, daß sein Werk vollendet sei auf Erden für den großen Haufen. Er fühlte, daß es Zeit sei, sich in die heilige Unsichtbarkeit zurückzuziehen und in dieser für wenige Eingeweihte durch die letzten und höchsten Wunder des Geistes zu wirken. Er tat daher mit Hilfe einer grandiosen Intrige, welche die Redner am Grabe spielten, so, als sterbe er und werde begraben, wurde aber aufgehoben von seinen Jüngern, nahm bei Nacht Extrapost nach Zehlendorf und weiter und geht nun umher in der Verborgenheit, sich einzelnen Erwählten offenbarend und diesen die innersten Arkana der Weisheit enthüllend.
Uns drei Brüdern manifestierte er sich auf einem Spaziergange nach Stuttgart, stillte alle unsere Schmerzen, befriedigte unser Sehnen und spielte mit uns Whist. Dann verschwand er uns, und endlich nach Jammer und Leid sehen wir ihn hier wieder, zwar schlafend, aber auch im Schlafe als Gott."
Karl Leberecht Immermann: Münchhausen - Eine Geschichte in Arabesken. (1838) Leipzig: Paul List Verlag 1968, S.718-721.